Multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung, bei der das Immunsystem die Myelinschicht der eigenen Nervenfasern angreift. Warum es zu dieser Fehlsteuerung kommt, ist bislang nur teilweise verstanden. Eine neue Studie der Universität Basel liefert nun mechanistische Hinweise darauf, dass bestimmte Darmbakterien diesen Prozess beeinflussen können.
MS-Patientinnen und -Patienten weisen eine veränderte Zusammensetzung des Darmmikrobioms auf. Schon länger wird vermutet, dass diese Veränderungen das Immunsystem modulieren und zur Krankheitsprogression beitragen.
«Wir wissen, dass die Darmflora das Immunsystem beeinflusst, aber die Mechanismen in Bezug auf MS sind nicht vollständig geklärt», sagt Anne-Katrin Pröbstel von den Universitäten Basel und Bonn.
Molekulares Mimikry im Fokus
Die Studie untersucht das sogenannte molekulare Mimikry. Dabei tragen bestimmte Darmbakterien Oberflächenstrukturen, die der Myelinschicht der Nerven sehr ähnlich sind. Das Immunsystem kann diese Strukturen nicht eindeutig unterscheiden und reagiert sowohl gegen die Bakterien als auch gegen körpereigenes Nervengewebe.
Das Forschungsteam um Pröbstel veränderte entzündungsfördernde Salmonella-Bakterien so, dass sie eine myelinähnliche Oberfläche aufwiesen. In genetisch veränderten Mäusen, die als Krankheitsmodell für MS dienen, führte dies zu einem deutlich beschleunigten Krankheitsverlauf im Vergleich zu unveränderten Bakterien.
«Die entzündungsfördernden Bakterien allein befeuern die Krankheit nur bedingt», erklärt Pröbstel. «Aber die Kombination aus entzündlichem Milieu und molekularem Mimikry aktiviert spezifische Immunzellen. Diese vermehren sich, wandern ins Nervensystem ein und greifen dort die Myelinschicht an.»
Abhängig von bakteriellen Eigenschaften
Die Forschenden führten vergleichbare Experimente mit nicht entzündlichen E. coli-Bakterien durch, die Teil der normalen Darmflora sind. Trotz myelinähnlicher Oberflächenstrukturen zeigte sich hier ein deutlich milderer Krankheitsverlauf.
«Wenn wir in Zukunft mit anderen Bakterien arbeiten, die das Immunsystem aktiv beruhigen statt anzustacheln, könnten wir Immunzellen womöglich darauf schulen, das Myelin zu tolerieren und nicht anzugreifen», so Pröbstel.
Implikationen für Chemie und Pharma
Die Ergebnisse verdeutlichen, dass nicht nur die Zusammensetzung des Mikrobioms, sondern auch spezifische molekulare Eigenschaften einzelner Mikroorganismen den Verlauf von Autoimmunerkrankungen beeinflussen können. Für die Chemie- und Pharmaforschung ergeben sich daraus neue Ansatzpunkte, etwa für die Entwicklung mikrobiombasierter Therapeutika oder immunmodulierender Strategien.
Zugleich weisen die Forschenden auf potenzielle Risiken hin. «Manche Krebstherapien nutzen das Mikrobiom, um das Immunsystem gegen den Tumor anzustacheln», sagt Pröbstel. «Damit schafft man aber möglicherweise auch das Milieu im Darm, in dem molekulares Mimikry Autoimmunreaktionen oder gar -krankheiten auslösen kann.»
Die Studie wurde in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Bonn, dem Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen sowie weiteren Partnerinstitutionen durchgeführt und unter anderem durch den Schweizerischen Nationalfonds gefördert.