Wirksame Strategien für den Klimaschutz entstehen nicht im stillen Kämmerlein. Die Empa hat ein Klima-Spiel entwickelt, das in Teamarbeit gut Ideen herausarbeitet.

Wirksame Strategien für den Klimaschutz entstehen nicht im stillen Kämmerlein. Die Empa hat ein Klima-Spiel entwickelt, das in Teamarbeit gut Ideen herausarbeitet.

Die Qual der Wahl: Welche «Aktionskarte wirkt jetzt effizient gegen die Klimakrise?

Die Qual der Wahl: Welche «Aktionskarte wirkt jetzt effizient gegen die Klimakrise?

Spielend zur Klimawende

Publiziert

Will die Schweiz ihr Ziel erreichen, bis zum Jahr 2050 klimaneutral zu sein, sind noch viele Hürden zu überwinden. Im Rahmen der St. Galler City Challenge zum Schweizer Digitaltag 2021 liess ein neues Simulationsspiel, das die Empa mit Projektpartnern entwickelt hat, die Teilnehmer in Probleme, Chancen und Zwickmühlen eintauchen – eine lebhafte Inspiration für eine nachhaltige Zukunft.

Heute werden sie die Erderwärmung stoppen: Lebensmittelingenieur Bertrand und Stephi, promovierte Biochemikerin mit Faible für Umweltthemen. Ariane und Salomon, zwei Fachleute für Nachhaltigkeit, ausserdem Patrick, Ausbilder für Lehrpersonen, Empa-Mitarbeiter Marcel und Raumplanerin Tamar. Zwischen 41 und 56 Jahren alt, bringen sie buntgemischte Kompetenzen und viel Erfahrung mit. Und Neugierde, ob sie die Treibhausgas-Emissionen in der Schweiz auf netto Null senken werden – an einem halben Tag?

Samstag, 23. Oktober, 13:30 Uhr: «postfossilCities» an der Empa St. Gallen. «Wir werden gleich abheben und beschleunigen!», sagt Markus Ulrich, ein Profi für Planspiele, der an der Entwicklung beteiligt war. Mit Empa-Forscher Andreas Gerber erklärt er die Simulation, die auf mehrjährigen Studien basiert. Von nun an ist Bertrand ein Investor, Stephi vertritt die Bevölkerung, Ariane ist eine Planerin und Salomon ein Energieversorger. Patrick wird zum Nischenplayer, Marcel zum Politiker und Tamar zur Industrievertreterin.

Sieben Rollen, gleiche Rechte – quasi ein Klima-Bundesrat. Damit die Simulation sich echt anfühlt, geben die Spielregeln mehrere Ziele vor. Einerseits Erfolg im Ringen um weniger Treibhausgase und «ein gutes Leben für alle», andererseits reiner Eigennutz. Sprich: Der Politiker soll seine Beliebtheit fördern, der Nischenplayer neue Technologien; die Industrie will ihren Gewinn maximieren.

Rollenspiel mit Gemeinsinn und Eigensinn

Aufwärmrunde in die Zukunft: 2021 bis 2024. Gewürfelt wird beim Klima gottlob nicht. Stattdessen dürfen die Sieben je drei ihrer «Aktionskarten» auswählen: Klimaschutz-Massnahmen von behutsam bis radikal. Skeptisch betrachten sie ihre Optionen, grübeln, murmeln. Der Investor kann etwa Geld in Hybridfahrzeugen anlegen, möglicherweise eine Übergangstechnologie – und der Politiker könnte versuchen, Verbrennungsmotoren für Privatfahrzeuge gleich ganz zu verbieten.

Die Folgen jeder Aktion sind auf den Karten abzulesen. Der Effekt aufs Klima ebenso wie der Einfluss auf die eigene «Rollenstärke»: Wer seine Interessen durchsetzt, darf mehr Aktionskarten nutzen – und hat damit mehr Handlungsspielraum. Und nicht zuletzt «De-Blockers»: andere Mitspieler, die Karten haben, mit denen sich die Wirkung der eigenen Karte verstärken lässt. Wer siegen will, muss Bündnisse schmieden.

Zweite Runde: 2024 bis 2027. Um den Spieltisch im Zentrum bilden die Sieben Gruppen, trennen sich, suchen neue Allianzen, vergleichen ihre Karten. Planerin versus Politiker: Zunächst «Renovieren fürs Klima» oder sofort ein scharfes Baugesetz für «Null- oder Plus-Energiestandard»? Oder besser vorab «Urbane Selbstbestimmung», damit Quartiere der Schweizer Stadt den Klimaschutz mitgestalten? Planerin Ariane arbeitet selbst an nachhaltigen Projekten mit Bürgerbeteiligung und wünschte sich mehr Karten mit solchen Ideen. «Politik braucht doch auch Partizipation!», sagt sie.

«Noch 30 Sekunden, 10, Stopp!», tönt Markus Ulrichs Stimme durch den Raum. Andreas Gerber erfasst die abgelegten Karten nacheinander am Computer in der Spielsoftware. «Ah, ihr habt euch in der Stadtplanung betätigt: Planung für kurze Wege», sagt er, «huiij, auch eine drastische Massnahme: Verbrennungsmotoren verbieten!» Was hat all das gebracht? Andreas projiziert Diagramme an die Wand: Vier Spieler liegen gleichauf in Führung. Die Kurve des Ausstosses von Treibhausgasen bis zum Jahr 2100 hat sich gesenkt, doch: «In einigen Bereichen ist noch viel Potenzial", sagt er, «Ernährung und Industrie zum Beispiel».

Die Uhr tickt mit

Dritte Runde: 2027 bis 2030. Nur fünf Minuten Bedenkzeit, schliesslich drängt die Zeit auch beim Klimaschutz. Stephi bleibt dennoch besonnen. Drastische Aktionen sind für ihre «Bevölkerung» vielleicht ja gar nicht nötig, hofft sie. Und Schwarzweiss-Entscheidungen wie «Atomkraft? Nein danke»? Lieber abwarten.

Wieder verhandeln. Dreier-, Vierer- und Fünfergruppen, Vorschläge, Kompromisse. Das Spiel wird schneller und auch intensiver. «Der lässt sich bei der CO2-Abscheidung und -Speicherung einfach nicht erweichen! », brummt Nischenplayer Patrick über einen Kollegen und verlässt die Gruppe. «Eigene Interessen versus Zusammenarbeit», sagt Andreas Gerber mit zufriedenem Lächeln, «jetzt sind wirklich alle mittendrin im Spiel!»

Ein Metronom beginnt zu ticken: eine Minute noch. Und dann wieder eine drastische Direktive. «Fossile Heizungen verbieten», liest Andreas vor. Auch der Energieverbrauch durch Kühlschränke, Herde und andere Geräte wird gesenkt, doch die Projektion zeigt: Die Kurve der Treibhausgas-Emissionen rutscht dadurch nur minim nach unten. Haushaltsgeräte verursachen also keinen entscheidenden Anteil an der Bilanz.

Gemeinsames Fazit inklusive

«Unter dem Strich eine wirkungswolle Runde. Aber unsere Emissionen liegen noch drei Mal so hoch wie das verfügbare Kohlenstoffbudget», bilanziert der Spielleiter. Vieles bleibt zu tun, doch um kurz vor 16 Uhr wird die Zeit knapp, denn das De-Briefing, das zum Spiel gehört, steht noch an – Abbruch der Übung. Enttäuschte Mienen hier und dort. «Verlassen Sie Ihre Rollen», sagt Markus Ulrich gleichwohl, «kehren Sie zurück ins Jahr 2021!»

Kaffee, Schoggi, Denkpause – schon wirbeln Gedanken durch die Runde wie Laub im Sturm. «Koordination ist wichtig», sagt Stephi, «aber manchmal muss man einfach entscheiden und dann schauen, was passiert. Sehr spannend!» Planerin Ariane fand das Spiel auch inspirierend. «Mehr Themen aus Bereichen wie Biodiversität oder Gesundheit wären schön», ergänzt sie. Und Salomon? «Man freut sich, wenn ein Coup gelingt», sagt er und grinst, «aber im Spiel gibt es natürlich auch nur ‹gute› Massnahmen – keine Antagonisten wie ‹Klima-Taliban› als Gegner.»

Apropos Gegner: Wer hat letztlich gewonnen?

Kein Wort dazu, auch keine Frage. Wer sich am Ende durchgesetzt hat, interessiert die Sieben schlichtweg nicht – ein stiller Rat vielleicht, an Politiker, Firmen, Investoren und alle anderen, die beim Klimaschutz reale Rollen spielen.

 Das Spiel

«postfossilCities» ist ein Simulationsspiel, in dem Spielende die Transformation einer fiktiven Schweizer Stadt zur Klimaneutralität erproben. Neben Rollenspiel-Elementen enthält das Spiel auch ein neues dynamisches Computermodell, das Daten über die Materialflüsse der gesamten Schweizer Volkswirtschaft beinhaltet. Dieses Modell ermöglicht es, spontan verschiedene Szenarien zu rechnen – die Grundlage, um die Auswirkung von rund 200 Entscheidungsmöglichkeiten («Aktionskarten») auf die Treibhausgasemissionen in verschiedenen Sektoren abzuschätzen. Im Handel gibt es das Spiel wegen seiner Komplexität nicht – es ist für angeleitete Workshops konzipiert und wendet sich an heutige und künftige Entscheider wie Führungskräfte, Studierende und andere Interessierte. Für virtuelle Spielanlässe gibt es ebenfalls eine Version. Entwickelt wurde das Spiel im Rahmen des NFP73-Projekts an der Empa St. Gallen mit den Partnern Ulrich Creative Simulations, Universität Zürich, Ostschweizer Fachhochschule und der Norwegian University of Science and Technology.

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Bezugsquellenverzeichnis