Karin Sartorius hat sich über Jahre hinweg einen Namen gemacht – als politische Gestalterin, als Brückenbauerin zwischen Wirtschaft und Gesellschaft und als unermüdliche Fürsprecherin für Chancengleichheit. Ihre Motivation ist persönlich wie politisch geprägt: Aufgewachsen in einem Umfeld, in dem Engagement vorgelebt wurde, war ihr früh klar, dass Wandel nicht von allein geschieht.
Als eine von wenigen Frauen in MINT-Fächern am Gymnasium und später im Ingenieurstudium erlebte sie das Ungleichgewicht in der Wissenschaft unmittelbar. Auch in der Berufswelt, etwa im Austausch mit C-Level-Führungskräften, blieb sie oft eine Ausnahme. Dennoch oder gerade deshalb engagierte sie sich – unter anderem während des Studiums in den USA mit der Lancierung der «Girls Engineering Days», in Programmen wie «Helvetia ruft», die Frauen für politische Ämter gewinnen wollen während ihrer politisch aktiven Zeit und nun mit den Powher Awards, die Unternehmerinnen in der Region Basel auszeichnen.
Sartorius war mehrere Jahre Mitglied des Grossen Rats im Kanton Basel-Stadt und die einzige Frau in ihrer Fraktion. Heute nutzt sie ihre Erfahrung gezielt, um in der Wirtschaft Strukturen mitzugestalten, die Frauen in Innovation und Unternehmertum stärken. Ihr Motto: «Nicht motzen – machen.» Ein Leitsatz, den sie von ihrer Mutter übernommen hat – und der sich durch ihre gesamte Laufbahn zieht.
Im Interview mit Innovation Chemie Pharma spricht Karin Sartorius, Präsidentin des Netzwerks Powher und Co-Organisatorin des Rahmenprogramms «Women in Life Sciences» an der Ilmac 2025, über die Situation von Frauen in den Life Sciences, strukturelle Hürden, wirksame Netzwerke und ihre Vision für die Zukunft.
Innovation Chemie Pharma: Frau Sartorius, Sie engagieren sich seit Jahren für Frauen in den Life Sciences. Wie würden Sie den Status quo aktuell beschreiben – wo stehen wir heute?
Karin Sartorius: In den letzten Jahren wurden wichtige Fortschritte gemacht und vieles ist in Bewegung gekommen. Die Sichtbarkeit von Frauen in Führungspositionen hat zugenommen und es gibt stärkere Netzwerke sowie öffentliche Initiativen. Dennoch bleiben zentrale Herausforderungen bestehen: Frauen bleiben in strategischen Schlüsselpositionen weiterhin unterrepräsentiert, sowohl in Forschungseinrichtungen als auch in der Industrie. Das betrifft nicht nur Führungsebenen, sondern auch Entscheidungsgremien für Forschungsprioritäten [3]. Letzteres kann problematisch sein, denn diese strukturelle Lücke beeinflusst letztlich auch, welche Themen erforscht werden und wie Forschungsgelder verteilt werden – mit weitreichenden Konsequenzen für Innovation und gesellschaftlichen Fortschritt.
Wo sehen Sie Fortschritte – und wo gibt es weiterhin Nachholbedarf?
Die Debatte ist heute offener, die Sensibilität für Gleichstellung in vielen Unternehmen gestiegen. Netzwerke, Awards oder Initiativen auf Konferenzen wie der Ilmac machen weibliche Führungspersönlichkeiten sichtbarer. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung und in den Medien hat sich einiges getan. Handlungsbedarf sehe ich jedoch bei den strukturellen Hürden: Etwa beim Zugang zu Fördergeldern, bei der Vereinbarkeit von Karriere und Familie oder dem Umgang mit Teilzeitmodellen. Die Belastung durch Care-Arbeit, inklusive erhöhter «Mental Load», bleibt zum grossen Teil noch immer an den Frauen hängen – das wirkt sich auf Karrieren aus. Die Vorstellung von kontinuierlicher Verfügbarkeit ist in vielen forschungsnahen Berufen nach wie vor tief verankert. Auch die Gender Health Gap ist weiterhin ungelöst.
Female Leadership & strukturelle Hürden
In der öffentlichen Debatte ist oft von der «gläsernen Decke» die Rede. Was sind Ihrer Meinung nach die grössten unsichtbaren Barrieren für Frauen in Forschung und Industrie?
Unsichtbare Vorurteile, etwa in Rekrutierungsprozessen oder bei der Einschätzung von Führungsstärke, sind zentrale Hindernisse. Daneben zeigt sich fehlender Zugang für Frauen zu informellen Netzwerken, in denen Entscheidungen vorbereitet werden. Es sind nicht nur die offiziellen Strukturen, die zählen, sondern auch die sozialen Geflechte, die darüber entscheiden, wer für bestimmte Positionen in Betracht gezogen wird. Auch hier spielen unbewusste Vorurteile, der sogenannte «Unconscious Bias», in Rekrutierung und Karriereentwicklung eine Rolle und immer noch besteht eine geringe Vereinbarkeit von Familie und beruflicher Weiterentwicklung – insbesondere in forschungsintensiven Berufen. Wir brauchen neue Bilder von Führung und Erfolg.
Sie betonen die Bedeutung weiblicher Perspektiven für Innovation und Qualität. Was meinen Sie damit konkret?
Frauen bringen oft andere Perspektiven, Denkansätze und Fragestellungen in Innovationsprozesse ein. Divers besetzte Teams agieren breiter, reflektierter und nachhaltiger. Gerade in einem Sektor, der Lösungen für die Gesundheit aller entwickeln will, ist diese Vielfalt ein klarer Wettbewerbsvorteil. Es geht nicht nur um Repräsentation, sondern auch um Relevanz: Welche Probleme betrachten wir als dringlich? Wer definiert, was «Innovationsbedarf» bedeutet? Hier braucht es mehr Vielfalt, auch auf konzeptioneller Ebene.
Was können Unternehmen konkret tun, um mehr Frauen zu fördern?
Mentoringprogramme sind ein wichtiger Hebel, sie bieten jungen Frauen Orientierung, Rückhalt und die Möglichkeit, sich selbst und ihre Karriere strategisch zu entwickeln. Es braucht gezielte Talentförderung, transparente Karrierewege und eine Unternehmenskultur, die auf echte Chancengleichheit setzt und nicht auf Anpassung an männlich dominierte Strukturen. Dazu gehört auch die Bereitschaft, neue Karrierepfade zuzulassen, etwa über Teilzeit-Führungsmodelle, geteilte Leitungsfunktionen oder flexiblere Projektstrukturen. Unternehmen sollten sich fragen: Welche Strukturen unterstützen Vielfalt wirklich und welche verhindern sie?
Netzwerke & Sichtbarkeit
Welche Rolle spielen Netzwerke wie Powher?
Nur 15,5 Prozent aller Founders sind weiblich. Netzwerke wie Powher setzen genau hier an: Wir geben Frauen eine sichtbare Plattform, feiern mutige Vorreiterinnen und fördern gezielten Austausch. Solche Plattformen stärken Selbstvertrauen, erhöhen strategische Sichtbarkeit und ermöglichen es, systemische Hürden gemeinsam zu überwinden. Die Powher Awards leisten darüber hinaus einen wichtigen Beitrag, das Thema Gleichstellung in der breiten Öffentlichkeit zu verankern und gesellschaftliche Diskussionen anzustossen. Das ist wichtig, denn viele Förderprogramme oder Venture-Capital-Netzwerke sind nach wie vor männlich geprägt. Netzwerke helfen nicht nur beim Zugang zu Ressourcen, sondern auch bei der strategischen Positionierung und dem Austausch auf Augenhöhe.
Die Ilmac rückt das Thema gezielt ins Rampenlicht. Was dürfen wir erwarten?
Das Rahmenprogramm «Women in Life Sciences» am 17. September 2025 an der Ilmac ist ein Highlight. Es ist eine bedeutende Plattform, um Gleichstellung, Diversität und Führungsverantwortung von Frauen in der Life-Sciences-
Branche sichtbar zu machen und ist gleichzeitig ein Signal: Die Branche beginnt, die Bedeutung von Diversität ernst zu nehmen – nicht als Nebenbei-Thema, sondern als Innovationsmotor. Die Veranstaltung «Women in Life Sciences» widmet sich der Gender Health Gap und der Rolle weiblicher Führungskräfte in der Branche – zwei Themen, die sowohl die Innovationsfähigkeit als auch die gesellschaftliche Wirkung der Branche entscheidend beeinflussen.
Die Veranstaltung bietet eine einzigartige Kombination aus inhaltlicher Tiefe, praxisnahen Impulsen und hochwertigem Networking. Es gibt internationale Keynotes, interaktive Austauschformate wie «Meet the Experts» und die Möglichkeit, sich mit Expertinnen und Experten zu vernetzen.
Zielgruppe sind Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, junge Talente und engagierte Fachpersonen aus Wissenschaft und Industrie.
Die Ilmac bietet hier nicht nur Sichtbarkeit – sie schafft echten Handlungsraum.
Politische Forderungen & Massnahmen
Welche politischen und strukturellen Veränderungen sind nötig, um Gleichstellung zu ermöglichen?
Wir brauchen klare Rahmenbedingungen, beispielsweise für Lohngleichheit, geschlechtergerechte Förderstrukturen und verbindliche Gleichstellungsziele. Es geht nicht um Quoten, sondern um Transparenz, Bewusstsein und gezielte Unterstützung. Der Kanton Basel-Stadt etwa macht Förderungen an Gleichstellungskriterien fest – das zeigt, wie politisches Handeln Wirkung entfalten kann. Solche Mechanismen wirken subtil, aber nachhaltig: Wer öffentliche Mittel erhält, übernimmt Verantwortung für Gleichstellung. Auch neue Programme zur Förderung von zusätzlicher Elternzeit in Unternehmen setzen hier an und zeigen, dass Gleichstellung auch Standortvorteil sein kann.
Zukunftsblick & Roadmap
Blicken wir zehn Jahre in die Zukunft: Wo sollten Frauen in den Life Sciences im Jahr 2035 stehen?
Frauen sollten in allen entscheidenden Gremien vertreten sein, als Führungskräfte, Forschende und Unternehmerinnen. Sie sollten Rahmenbedingungen vorfinden, um ihr Potenzial zu entfalten ohne sich verbiegen zu müssen. Parität in strategischen Bereichen sollte zur gelebten Normalität geworden sein und nicht mehr als Ausnahme gelten. Wenn wir von Gleichstellung reden, geht es letztlich um die Freiheit, berufliche und private Lebensentwürfe eigenständig zu gestalten – unabhängig vom Geschlecht.
Welche konkreten Schritte braucht es, um dorthin zu kommen?
Drei Säulen: erstens gezielte Förderung und Sichtbarmachung weiblicher Talente, zweitens Stärkung geschlechtersensibler Forschung, drittens strukturelle Veränderungen in Organisationen; durch Kulturwandel, transparente Prozesse und Diversitätskompetenz in Führungsetagen. Hinzu kommt ein bewusster Umgang mit Sprache, Sichtbarkeit und Vorbildern. Es braucht ein neues Narrativ von Führung, das Diversität nicht nur zulässt, sondern sucht. Und es braucht Menschen, die diesen Wandel tragen – mit Überzeugung, Erfahrung und dem Mut, Strukturen zu hinterfragen. Alles beginnt mit Bewusstsein und endet bei konkretem Handeln.
Wenn Sie jungen Frauen in der Life-Science-Branche einen Rat mitgeben dürften – welcher wäre das?
Bleibt neugierig, sichtbar und vernetzt. Sucht euch Verbündete. Vertraut auf eure Kompetenzen. Es ist eure Bühne – nutzt sie! Und wenn ihr an Netzwerkanlässen teilnehmt: Geht nicht nur hin – geht mit einer Mission! Überlegt euch vorher, was ihr mitnehmen wollt, wen ihr ansprechen möchtet, wie ihr euch positionieren wollt. Sichtbarkeit entsteht nicht von allein, sie beginnt mit einem inneren Entschluss und mit gegenseitiger Unterstützung. Denn: Wer gefördert wurde, kann auch selbst fördern. Und damit eine Kette von Chancen in Gang setzen, die weit über die eigene Karriere hinaus wirkt.
Gender Health Gap – Warum geschlechtersensible Forschung überfällig ist
Frauen werden in der medizinischen Forschung noch immer zu wenig berücksichtigt [4, 5], das hat weitreichende Folgen: Symptome werden bei ihnen häufiger falsch eingeordnet, Medikamente sind oft nur für den männlichen «Normkörper» getestet, frauenspezifische Krankheiten wie Endometriose oder Autoimmunerkrankungen bleiben unterdiagnostiziert [6]. Karin Sartorius spricht von einem der «grössten und am wenigsten beachteten Gleichstellungsprobleme unserer Zeit».
Besonders deutlich zeigt sich das in der Diagnostik: Frauen erhalten bestimmte Diagnosen deutlich später als Männer – etwa bei Herzinfarkten oder chronischen Schmerzen. Um diese Lücke zu schliessen, braucht es laut Sartorius Forschung mit geschlechterspezifischem Studiendesign, eine verpflichtende Datenerhebung nach Geschlecht sowie gezielte Fortbildungen für medizinisches Personal.
Die Gender Health Gap ist mehr als ein medizinisches Defizit, sie ist Ausdruck eines Systems, das lange männliche Erfahrungswerte zur Norm erklärt hat. Eine gerechtere Gesundheitsversorgung beginnt mit besserer Datenlage – und mit dem Willen, Vielfalt auch in der Forschung zuzulassen.
Hinweis: Dieses Thema wird ausführlicher im November 2025 in unserem Schwestermagazin «Innovation Healthcare» diskutiert.
Quotenregelung: Fortschritt mit Nebenwirkung
Die Einführung gesetzlicher Zielvorgaben (Frauenquote) für börsenkotierte Unternehmen hat in den letzten Jahren zu einem messbaren Anstieg des Frauenanteils in Verwaltungsräten geführt [1, 2]. Besonders deutlich war dieser Effekt bei SMIUnternehmen, die ihre Zielquote von 30% bis Ende 2025 erreichen mussten.
Aber: Russell Reynolds [1] zeigt, dass sich viele Unternehmen nach Erreichen der Quote zurücklehnen. Die Nominierung neuer weiblicher Mitglieder ist rückläufig – 2024 lag der Anteil bei nur noch 26%. Anstatt aktiv an echter Parität zu arbeiten, wird der gesetzliche Mindestwert oft als Endziel interpretiert. Das hemmt strukturellen Wandel und langfristige Sichtbarkeit von Frauen in strategisch relevanten Rollen.
Fazit: Ohne Nachbesserung und klare Anreize droht die Dynamik zu stagnieren. Der Sprung von 30 auf 50 Prozent braucht mehr als nur Quoten – nämlich Kulturwandel, gezielte Nachfolgeplanung und Förderung weiblicher Netzwerke.
Glossar
Gläserne Decke – Unsichtbare Barrieren, die Frauen trotz Qualifikation daran hindern, in Führungspositionen aufzusteigen.
Care-Arbeit – Bezeichnet unbezahlte Sorgearbeit wie Kinderbetreuung, Pflege oder Haushaltsführung, die mehrheitlich von Frauen geleistet wird.
Unconscious Bias – Unbewusste Vorurteile, die Entscheidungen in Rekrutierung, Bewertung oder Beförderung beeinflussen können.
Mental Load – Die unsichtbare Denkarbeit rund um Alltagsorganisation und Familienmanagement, die häufig Frauen übernehmen.
Literatur
[1] Russell Reynolds Associates. (2024). The Ongoing Challenge of Gender Balance in Swiss Boardrooms.
[2] CRIF. (2025). Ratio of women at the management level is 28.4%
[3] Müller-Möhl Foundation. (2023). More Women in Leadership Positions!
[4] EY. (2023). How health equity by design can help finance women-centric solutions. Equity 2030 Alliance.
[5] Swiss Re. (2023). FemTech: Bridging the gender gap in healthcare.
[6] Forbes. (2023). The Gender Health Gap Is Seriously Impacting Reproductive Healthcare.
Alle Quellen online verfügbar, Stand 20. Juni 2025