Immer mehr Länder – darunter auch die Schweiz und die EU-Staaten – wollen ihre Treibhausgasemissionen bis 2050 auf netto null bringen. Um das Ziel der Dekarbonisierung der Wirtschaft zu erreichen, braucht es nicht nur eine erfolgreiche Energiewende, sondern auch neue Materialien und Verfahren für die Produktion von Industrie- und Konsumgütern. Auch die Chemieindustrie ist gefragt, denn sie kann einen wichtigen Beitrag zu einer nachhaltigeren Wirtschaft leisten. Ein besonders vielversprechender Bereich sind biobasierte und rezyklierte Materialien und Anwendungen für die Kreislaufwirtschaft.
Ob in Chemikalien, petrochemischen Produkten wie Plastik, Naturprodukten wie Holz oder in anderen Rohmaterialien: Kohlenstoff ist in jedem Material enthalten und die Basis des Lebens auf der Erde – und CO2-Emissionen machen weltweit 80 Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen aus. Im Energiesektor ist die Dekarbonisierung und somit das Erreichen von Klimazielen möglich, indem weniger (oder gar keine) fossile, kohlenstoffhaltige Energieträger verwendet werden. In der Chemieindustrie ist das schwieriger respektive unmöglich, da die organische Chemie auf der Verwendung von Kohlenstoff basiert. Die Chemie- und Kunststoffindustrie muss also alternative Kohlenstoffquellen finden, um eine klimafreundlichere Produktion und einen nachhaltigeren Verbrauch zu erreichen. Das unabhängige deutsche Forschungsinstitut Nova erklärt in diesem Zusammenhang, das Äquivalent zur Dekarbonisierung im Energiesektor sei der Übergang zu erneuerbarem Kohlenstoff in der Chemie- und Kunststoffindustrie.
Dekarbonisierung funktioniert nur im Energiebereich
Erneuerbarer Kohlenstoff kann jedoch nur aus drei Quellen gewonnen werden: aus Biomasse, durch Kohlenstoffabscheidung und -nutzung (Carbon Capture and Utilisation, CCU) und durch das Recycling bereits vorhandener Kunststoffe und anderer chemischer Produkte. Chemieunternehmen produzieren bereits grosse Mengen an biobasierten Kraftstoffen, wie zum Beispiel aus Biomasse hergestellten Diesel und Flugzeugtreibstoffe. Im Kunststoffbereich kommen Biopolymere (Biokunststoffe) in einer Vielzahl von industriellen Anwendungsbereichen zum Zug, von der Biomedizin bis zur Verpackungsindustrie (PET-Flaschen). Innovative Player tätigen auch grosse Investitionen in neue Anwendungen für erneuerbare Energie, wie Kohlenstoffabscheidung und -speicherung.
Und wie kann der Kohlenstoffkreislauf neu definiert und Kohlenstoff rezykliert werden? Die meisten Industrie- und Konsumgüter werden nach einigen Jahren nicht mehr genutzt, und die Möglichkeiten ihres weiteren Gebrauchs sind beschränkt. Sie enthalten jedoch Materialien mit wichtigen Kohlenstoffmolekülen, die in einer Kreislaufwirtschaft für die Herstellung neuer Produkte verwendet werden können. Dem Recycling von Produkten kommt also eine enorm wichtige Rolle zu.
Neue, hochwertige Materialien dank Kohlenstoff-Recycling
In der Schweiz ist es dank der ausgeprägten Recyclingkultur relativ einfach, an wiederverwertbare Materialien zu gelangen. Wenn alle Optionen des mechanischen Rezyklierens ausgeschöpft sind, kommt die Chemie ins Spiel. Beim chemischen Recycling werden Kunststoffe in ihre chemischen Bausteine zerlegt und gereinigt. Es ist also technisch möglich, schon einmal genutzten Kohlenstoff im Produktionskreislauf wiederzuverwenden. Das chemische Recycling steckt jedoch noch in den Kinderschuhen und birgt einige Herausforderungen.
In der Vergangenheit wurden fast alle Chemikalien, Kraftstoffe und Bausteine für Werkstoffe aus den drei weitverbreiteten und hochstandardisierten fossilen Kohlenstoffquellen Öl, Gas und Kohle entwickelt. Die Verwendung von Standardrohstoffen ermöglichte die schnelle Entwicklung und Einführung von Technologien auf fossiler Basis. Die Umstellung auf Kohlenstoffquellen aus Abfällen und Recyclingströmen sowie auf biobasierte Rohstoffe zur Herstellung der gleichen Komponenten erhöht die Komplexität der Entwicklung, Akzeptanz und Einführung neuer Technologien.
Herausforderung Reinigungstechnologie
Ein Schlüsselaspekt für den Erfolg und die Industrialisierung von Drop-in-Chemikalien, Kraftstoffen und Polymeren ist die Fähigkeit, diese Materialien in exakt der gleichen Qualität – und zu einem wettbewerbsfähigen Preis – herzustellen wie ihre fossilen Pendants. Die Auswahl der richtigen Reinigungstechnologien war bisher die grösste Herausforderung, und sie wird es auch in den kommenden Jahrzehnten bleiben, nicht zuletzt, weil die zu rezyklierenden Produkte immer anders verschmutzt sind. Mit mehr als 80 Jahren Erfahrung im Bereich der Trenntechnik ist die Division Chemtech der Schweizer Sulzer-Holding bestens gerüstet, um auch die anspruchsvollsten Reinigungsaufgaben zu lösen und eine rasche grüne Transformation zu ermöglichen.
Zudem ist der Schritt von Pilotanlagen zu kommerziellen Grossanlagen noch zu bewältigen. Die Chemieindustrie muss massive Investitionen in die Infrastruktur und Technologie des Kohlenstoff-Recyclings tätigen, damit in 10 bis 20 Jahren weltweit die notwendigen Kapazitäten vorhanden sind.
Hohe Investitionen notwendig
Chemisches Recycling wird in Zukunft ein wichtiger und vielversprechender Baustein einer «grünen» Wirtschaft sein. Start-ups und Chemiekonzerne entwickeln fortschrittliche Technologien und gehen Partnerschaften ein. Regulatorische Initiativen wie der Green Deal der EU oder die Renewable Carbon Initiative (RCI) unterstützen diese Entwicklung. Der rasche Wechsel zu Materialien, die auf wiederverwertetem Kohlenstoff basieren, ist neben der Dekarbonisierung des Energiesektors eine wichtige Voraussetzung für eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft.