In der Schweiz sind die kantonalen Behörden, das heisst die Kantonschemikerinnen und Kantonschemiker und ihre Amtsstellen und Labore, für den Vollzug der Gesetzgebung über Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände zuständig. Um alle kritischen Punkte bei den Produktionsverfahren über die gesamte Kette hinweg zu kontrollieren, führen sie Inspektionen in den Betrieben durch und ordnen entsprechende Korrekturmassnahmen an. Insgesamt führen in der Schweiz rund 220 Inspektoren sowie 350 wissenschaftliche Mitarbeitende für die Kantone Betriebskontrollen (über 40 000 jährlich) und Produktkontrollen (über 100 000 jährlich) durch und ordnen bei Bedarf entsprechende Massnahmen an.
Innovation Chemie Pharma: Herr Beckmann, welchen Auftrag haben die Kantonschemikerinnen und Kantonschemiker?
Matthias Beckmann: Die Lebensmittelgesetzgebung wendet sich in erster Linie an diejenigen, die am Markt teilnehmen, also die mit Lebensmitteln umgehen, sie herstellen, verarbeiten, umpacken, abgeben, transportieren, sie anbieten oder für sie Werbung machen. Nur ein ganz kleiner Teil der Gesetzgebung - eigentlich nur eine Verordnung, die sogenannte Lebensmittelvollzugsverordnung – erteilt den Behörden einen klaren Auftrag, was sie im Rahmen der Lebensmittelgesetzgebung zu tun haben –nämlich zu überwachen!
Sind also die Behörden für die Lebensmittelsicherheit verantwortlich?
Das ist ein weit verbreitetes Missverständnis. Die Hauptverantwortung tragen die Marktteilnehmer. Sie sind zur Selbstkontrolle verpflichtet, haben also eine Sorgfaltspflicht, zu prüfen, ob die in Verkehr gebrachten Lebensmittel die gesetzlichen Anforderungen erfüllen und die Gesundheit der Konsumenten nicht gefährden. Das gilt auch für Gebrauchsgegenstände. Wir verstehen uns als Überwachungsbehörde, wie die Polizei, die beispielsweise ihr Radargerät an der Autobahn aufstellt und überprüft, ob auch alle Verkehrsteilnehmer die Höchstgeschwindigkeit einhalten. Analog dazu führen wir Stichproben anlässlich von Inspektionen oder Produktkontrollen durch. Meinen Job verstehe ich als den eines Food-Safety-Managers, da ich die Kontrollen, die im Zusammenspiel von Inspektorat und Labor erfolgen, zu koordinieren habe.
Wie läuft die Überwachung genau ab?
Wir haben zwei Standbeine. Wir prüfen in erster Linie, ob die Selbstkontrolle wahrgenommen wird. Das umfasst die Verarbeitungshygiene, die räumlich-betrieblichen Voraussetzungen zur Herstellung von Lebensmitteln und das Management des Ganzen: Dokumentation, Prozesse, Umsetzung derselben und die gute Herstellungspraxis. Darüber hinaus prüfen wir, wie mit Lebensmitteln umgegangen wird, wie sie gelagert, kontrolliert und gekennzeichnet werden.
Das andere Standbein ist die Produktkontrolle. Hier erheben wir Waren überwiegend aus dem Detailhandel und prüfen, ob sie korrekt zusammengesetzt sind, ob das drin ist, das draufsteht, ob die Deklaration stimmt, ob Kontaminationen vorhanden sind und entsprechende gesetzliche Höchstwerte eingehalten werden. Anders herum gilt es auch, gesetzliche Mindestgehalte für bestimmte Lebensmittelzutaten wie Butter in Buttergipfeli einzuhalten.
Wie gehen Sie bei der Erhebung vor?
Wir gehen nach dem risikobasierten Ansatz vor. Die Verantwortung bzgl. Lebensmittelsicherheit liegt bei den Erzeugern und Inverkehrbringern, unsere Aufgabe ist die Überwachung. Damit das gelingt, brauchen wir ein Minimum an Personal und eine vernünftige Organisationsstruktur aus Inspektoratsdienst und Labor. Mit meinem Team aus Abteilungsleitern, und diese wiederum mit ihren Teams von Kontrolleuren und Laboranten, machen wir uns stetig Überlegungen, wie wir das Richtige beproben können. Wir konzentrieren uns auf das Wesentliche, um mögliche Gefahren von den Konsumentinnen und Konsumenten fernzuhalten. Risikobasierte Erhebungen finden aufgrund von Erfahrungswerten statt und auch schon allein deshalb, weil der Fokus der Überwachung immer nur auf einzelnen Aspekten der Lebensmittelgesetzgebung liegen kann. Sollten wir immer alles bis ins letzte Detail überwachen müssen, bräuchten wir ein Vielfaches an Personal. Das ist unverhältnismässig und auch nicht wirklich zielführend. Der risikobasierte Ansatz ist daher sinnvoll und sicher auch im Sinne des Steuerzahlers.
Woher kennen Sie die Risiken?
Einerseits ist es Erfahrung, und andererseits gibt es ein Risikomonitoring, das vom Bund betrieben wird, mit dem Namen Seismo – von Seismograph. Im weltweiten Pressespiegel wird nach globalen gesundheitlichen Risiken geschaut. Jeden Monat bekommen wir eine nach Gefahrenpotenzial sortierte Übersicht in unterschiedlichen Rubriken: chemische, physikalische, mikrobielle Risiken bis hin zu Betrug. Wir erhalten dadurch zusätzliche Anregungen und Ideen, was man machen sollte und wo Risiken liegen könnten, und richten uns danach aus.
Gibt es regionale Besonderheiten im Kanton Graubünden?
Der Kanton Graubünden ist dafür bekannt, dass er viele Alpen hat. Daraus ergeben sich für Molkereiprodukte gewisse Risiken, weil auf Alpen die hygienischen Verhältnisse doch bescheidener sind als in einer Chromstahlfabrik im Tal.
Dann haben wir einige gewerbliche Betriebe und Produktgruppen, die ein Image vermitteln. Zum Beispiel: «Die kleine Region der grossen Weine». Wenn man das so stark am Markt positioniert, wollen wir natürlich auch, dass dieses Image keinen Schaden erleidet. Einen «Kantonssommelier» haben wir zwar nicht, es geht hier auch weniger um Geschmack oder Auszeichnungen. Wir kontrollieren vielmehr, ob gesetzliche Anforderungen betreffend Kontaminanten, Sulfite und Pestizide eingehalten werden, der Ethanolgehalt und die Kennzeichnung stimmt. Ähnliche Situationen haben wir auch bei Bier, Honig, Bündnerfleisch oder Käse – also bei Produkten, die Imageträger für den Kanton sind.
Ausserdem ist Graubünden ein Tourismuskanton, und von ca. 5200 gemeldeten Betrieben gehört die Hälfte der Gastronomie an. Das ist sowohl ein Inspektions-als auch Produktkontrollpunkt. Wir erheben regelmässig Hygieneproben aus Gastronomiebetrieben und schauen dem Küchenpersonal auf die Finger, weil gerade im Umgang mit leichtverderblichen Lebensmitteln ein besonderes Risiko liegt. Zudem gibt es in der Gastrobranche viele Personalwechsel. Mit dem Küchenverantwortlichen und seiner Equipe über einen längeren Zeitraum als ein Jahr ein Selbstkontrollkonzept aufzubauen, ist sehr schwierig.
Müssen Kontrolleure besondere Eigenschaften mitbringen?
Unseren Lebensmittelkontrolleurinnen und -kontrolleuren sind jeweils an die 800 Betriebe zugeteilt. Das ist vergleichbar mit einer Führungsaufgabe. Sie müssen einen Betrieb nicht nur begleiten, sondern mit ihm auf eine Reise gehen, die zu einem höheren Lebensmittelsicherheitslevel führen soll. Manche Betriebe machen sehr gern mit, weil sie einen Nutzen darin sehen, andere haben eine eher verweigernde Haltung. Damit auch diese Einsicht für das haben, was angeordnet wird, und mitmachen, brauchen die Kontrolleurinnen und Kontrolleure viel Sozialkompetenz und Fingerspitzengefühl. Bei Klientel, das einem nicht so wohlgesonnen ist, braucht ein Kontrollorgan schon ein festes Rückgrat. Dass das manchmal unterschätzt wird, bemerke ich oft bei Bewerbungsgesprächen. Manche Kandidatinnen und Kandidaten haben sehr romantische Vorstellungen von der Lebensmittelkontrolle: ein bisschen durch den Kanton reisen, hier ein paar Kommandos durchgeben, da ein bisschen nachschauen und da vielleicht eine Busse erteilen – was im Übrigen nicht in unserer Zuständigkeit liegt. Aber so einfach ist es nicht; Kontrollen sind sehr herausfordernd. Dann kommt noch das Verfassen der Kontrollberichte hinzu. Und nicht jeder Betrieb ist wie der andere. Es erfordert viel Fachkompetenz, und je nach Betriebsgrösse muss auch die Verhältnismässigkeit gewahrt bleiben. In Bezug auf die Betriebskategorien gibt es auch keine Schablone, nach der man vorgehen könnte. Jeder Betrieb ist anders.
Was würden Sie sagen, ist das Speziellste, das Sie untersuchen?
Ganz besonders ist das Wasser. Wir haben Trinkwasser als Lebensmittel, aber auch Bade- und Duschwasser als Gebrauchsgegenstand – ein «Gegenstand», der durch die Hände rinnt, aber nichtsdestotrotz mit der Haut in Kontakt kommt wie eine Uhr, Schmuck oder Textilien.Eine Trinkwasserversorgung kann über 200 Quellen, zig Brunnenstuben und Reservoirs haben. Das ist sehr komplex und spannend, weil wir es da mit einem echten Naturprodukt zu tun haben. In der Regel wird Trinkwasser nicht weiter aufgearbeitet, sondern so, wie es durch den Boden geströmt ist, konsumiert.
Das klingt herausfordernd – setzen Sie also bei der Wasseranalytik auf Hightech?
Kaum. Wir haben jetzt seit 130 Jahren Erfahrung im Plattengussverfahren mit definierten Untersuchungsnährböden und wissen, wenn es nicht mehr als 300 Keime pro Milliliter hat, dann ist es sauber und stellt kein Problem dar, sofern sich keine Fäkalkeime darin befinden.Neuere Entwicklungen, wie die Durchflusszytometrie, könnten dagegen in der Qualitätssicherung eingesetzt werden. An gewissen neuralgischen Punkten kann sich je nach Wetterlage die mikrobiologische Qualität ändern. Man könnte in gewissen regelmässigen Abständen Proben entnehmen, um zu verfolgen, wie sich die Gesamtkeimzahl ändert. Das könnte helfen, Lecks in Leitungen frühzeitig zu erkennen und rechtzeitig zu reagieren. In der Lebensmittelgesetzgebung ist die Durchflusszytometrie bislang noch kein Thema, weil es noch zu wenige Erfahrungswerte gibt.
Bleibt also im Vollzug immer alles gleich, oder gibt es aktuelle Herausforderungen?
Die Pandemie hat das Heimcatering befeuert. Das sind Kleinstproduktionen aus der eigenen Küche heraus, von jenen, die einen Mittagstisch anbieten, oder Speisen zum Mitnehmen. Heimcatering hat auch weiterhin Zuwachsraten, doch da gibt es das Problem, dass wir so etwas nur nebenbei mitbekommen. Die Betreiber wissen oft nicht, dass sie sich bei uns melden müssen.
Ein grundsätzlich begrüssenswerter Trend sind Massnahmen, die sich der Vermeidung von Lebensmittelverschwendung widmen. Wichtig ist, dass die Verantwortung geklärt ist: Wer kümmert sich darum, dass da nur sichere Lebensmittel abgegeben werden, wenn das MHD überschritten ist?
Fast schon grenzwertige Experimentierfreude begegnet uns bei veganen Ersatzprodukten für tierische Lebensmittel. Diese eigentlich pflanzlichen Produkte sind marketingtechnisch oft wie Fleisch- oder Molkereiprodukte aufgemacht. Hersteller streichen beispielsweise auf der Packung einfach die Worte «Milch» oder «Fleisch» durch und meinen, damit wäre die Sache für jedermann klar. Um Verwechslungen mit dem tierischen Original zu vermeiden, muss aber unmissverständlich deklariert werden.
Dann gibt es immer wieder Neuheiten. Ein Beispiel ist Bambusgeschirr: Das Bambuspulver mag ja noch okay sein, aber das ist in ein Melaminharz eingebunden, welches giftiges Melamin und Formaldehyd abgeben kann. Daher ist Bambusgeschirr auch wieder verboten worden. So wird die Lebensmittelkontrolle mit immer neuen Fragenstellungen konfrontiert.
Also von einem langweiligen Beamtenleben ist nicht die Rede?
Ganz und gar nicht. Es ist ein sehr spannender Job, weil man nie weiss, was einem heute begegnet. Wir haben auf der einen Seite so ein buntes Produktportfolio, auf der anderen Seite über 100 unterschiedliche Betriebskategorien und innerhalb jeder Kategorie noch unterschiedliche Betriebsgrössen. Dann haben wir den direkten Kontakt mit den sog. Rechtsunterstellten. Wir haben das Labor, das Produkte prüft, und das Inspektorat, das Inspektionen durchführt, und eine unheimliche Dynamik in der Gesetzgebung. Man muss sich immer wieder auf Veränderungen einstellen.