Innovation Chemie Pharma: Herr Kipfer, bitte fassen Sie kurz zusammen, was das Ziel der Studie «Fachkräftemangel-Index Schweiz 2023» war.
Yanik Kipfer: Der Fachkräftemangel-Index bietet eine wissenschaftlich fundierte Perspektive auf die Entwicklung des Fachkräftemangels in der Schweiz. Er analysiert Veränderungen in verschiedenen Berufsgruppen und ermöglicht einen Blick auf den Ist- Zustand im Vergleich zu den Vorjahren. Das Ziel ist es, die Entwicklung des Fachkräftemangels zu verstehen, ausgehend von aktuellen und früheren Daten, die bis ins Jahr 2015 zurückreichen.
Der Index hat 2023 einen neuen Höchstwert erreicht. Wie kam es dazu?
Generell beobachten wir, dass sich der Fachkräftemangel insbesondere in den letzten beiden Jahren verschärft hat. Vor allem im Jahr 2022 stieg der Index rapide an. Das ist zum einen konjunkturell bedingt. Mit Ausklingen der Pandemie und Lockerung der Corona- Massnahmen stieg die Nachfrage nach Wirtschaftsund Dienstleistungen sowie Industriegütern rapide an. Um diese bedienen zu können, haben die Firmen also nach Fachkräften gesucht, was zum rasanten Anstieg des Mangels geführt hat. In diesem Jahr hat sich der Anstieg etwas verlangsamt. Das hat damit zu tun, dass die Konjunktur durch geringere Auslandsnachfrage etwas nachgelassen hat. Nichtsdestotrotz steigt der Fachkräftemangel-Index weiter an, es gibt keine Entwarnung.
Welche Treiber gibt es für den Fachkräftemangel, und welche Berufsgruppen sind am stärksten betroffen?
Das eine ist der demografische Wandel, der schon seit einiger Zeit am Laufen ist und sich in den kommenden Jahren weiter zuspitzen wird: Die Baby-Boomer- Generation geht in Rente, es tritt nun eine Kohorte in den Arbeitsmarkt, die weniger gross ist. Stark betroffen sind Fachkräfte in Gesundheitsberufen, wie Ärzte und Pflegefachkräfte. Diese Berufsgruppen werden durch den demografischen Wandel doppelt belastet. Einerseits gehen viele in Rente, andererseits steigt durch die älter werdende Bevölkerung die Nachfrage nach diesen Gesundheitsdienstleistungen. Das andere ist der digitale und nachhaltige Wandel in der Wirtschaft und damit sich verändernde Kompetenzanforderungen auf dem Arbeitsmarkt. Es werden viel mehr IT-Skills nachgefragt und auch vermehrt Skills im Green-Economy-Bereich. Besonders stark sind MINT-Berufe betroffen. Ein Beispiel dafür ist der Ausbau der Infrastruktur für erneuerbare Energie. Technische Berufsgruppen in diesem Bereich weisen ohnehin einen Fachkräftemangel auf, der sich durch den Wirtschaftswandel jetzt noch weiter verschärft. Ein weiterer struktureller Treiber für Fachkräftemangel ist der Trend «Work-Life-Balance». Die Menschen wollen vermehrt Teilzeit arbeiten. Die Pensen reduzieren sich, doch die Belastungen durch die gleichbleibende Arbeitslast erhöhen sich.
Welche Auswirkungen hat der Fachkräftemangel auf Arbeitnehmer und Unternehmen?
Arbeitnehmende aus Berufsgruppen, die einen Fachkräftemangel aufweisen, haben mehr Verhandlungsmacht und können einfacher einen Job finden. Auf der Kehrseite nimmt die Belastung natürlich zu, weil den Unternehmen Leute fehlen. Das heisst, weniger Fachkräfte müssen mehr arbeiten, um den gleichen Output zu generieren. Es gibt das Barometer «Gute Arbeit» [1], das belegt, dass 40 Prozent der Arbeitskräfte häufig über arbeitsbedingten Stress klagen, 60 Prozent auch in der Freizeit arbeiten, und 80 Prozent geben an, dass sie gelegentlich nach der Arbeit zu erschöpft sind, um sich um familiäre oder private Angelegenheiten zu kümmern.
Welche Strategien verfolgen Unternehmen gegen den Fachkräftemangel?
Unternehmen setzen auf höhere Gehälter, flexible Arbeitsbedingungen und Zusatzleistungen, wie firmeninterne Kitas oder Beteiligung an GA oder Halbtax. Doch es ist auch ein Umdenken notwendig, weg von reinen Branchenerfahrungen hin zu einer Fokussierung auf Fähigkeiten. Sprich sich zu fragen, ob eine Person Kompetenzen mitbringt, die eine interne Weiterentwicklung oder Ausbildung erlauben, damit sie auf dem gewünschten Beruf eingesetzt werden kann – sogenannte transferierbare Kompetenzen. Alternativ können Prozesse optimiert, Automatisierung vorangetrieben oder pensionierte Fachkräfte weiter beschäftigt werden. Der Aufwand wird definitiv grösser, die wenig attraktive Alternative ist, die zu besetzende Stelle offen zu lassen und zu warten.
Spielen auch Umschulungen eine Rolle bei der Bekämpfung des Fachkräftemangels?
Unbedingt. Beispielsweise in Hinblick auf die Geschlechterverteilung sehen wir, dass Frauen öfter in Berufen arbeiten, die von einem Überangebot an Fachkräften geprägt sind. Da stellt sich die Frage: Wie können wir diese Menschen in Berufe eingliedern, die eher von einem Mangel betroffen sind? Das geht eigentlich nur durch Umschulungsmassnahmen. Doch die genaue Umsetzung ist Sache der Politik und Wirtschaft. Zwar bietet die Schweizer Bildungslandschaft viele Möglichkeiten für eine Aus- und Weiterbildung, aber die Finanzierung und der Erwerbsausfall aufgrund von Weiterbildungen sind eine grosse Last, wenn sie allein privat getragen werden muss.
Die Adecco-Gruppe ist davon überzeugt, dass ein sogenannter Gesellschaftsvertrag (Social Contract) notwendig ist. Es ist sehr wichtig, dass sich jede Partei ihrer Verantwortung bewusst ist und diese auch wahrnimmt. Unternehmen müssen in ihre Mitarbeitenden investieren und ihnen Zeit für Weiterbildung geben. Die Mitarbeitenden müssen bereit sein, kontinuierlich zu lernen und auch einen zeitlichen und finanziellen Beitrag zu ihrer persönlichen Weiterbildung zu leisten. Aber auch der Staat ist gefordert, Weiterbildung zu fördern und zu incentivieren.
Inwiefern belastet der Fachkräftemangel die Gesamtwirtschaft?
Der Kanton Zürich hat in seinem Wirtschaftsmonitor in den Jahren 2020/2021 eine Studie gemacht, um die wirtschaftlichen Auswirkungen des Fachkräftemangels zu beziffern. Dort wurde prognostiziert, dass bei Fortführung des bisherigen Wirtschafts- und Produktivitätswachstums in der Schweiz das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis im Jahr 2050 auf etwa CHF 1099 Mrd. ansteigen könnte. Mit dem aktuellen Stand der Erwerbstätigen lässt sich jedoch nur CHF 895 Mrd. erwirtschaften. Dadurch entsteht eine BIP-Lücke, die sich bis 2050 auf CHF 2700 Mrd. kumuliert [2]. Das sind beträchtliche wirtschaftliche Folgen, wenn der Fachkräftemangel nicht in den Griff bekommen wird.
Welche Bedeutung hat die Zusammenarbeit zwischen Politik und Wirtschaft?
Politische Initiativen existieren: die Ausbildungsinitiative in den Pflegeberufen, verschiedene Massnahmen für Finanzhilfen in der Kinderbetreuung, auch das Thema «Heiratsstrafe» ist aktuell wieder im Gespräch. Es soll der Anreiz geschaffen werden, dass auch der zweiterwerbende Familienteil in einem höherprozentingen Pensum arbeitet. Es gibt daneben steuerrechtliche Massnahmen oder auch Massnahmen wie Einsätze von Zivildienstleistenden in Schulen zur Unterstützung der Lehrer. Wichtig ist: Die Politik setzt die Rahmenbedingungen, und die Wirtschaft muss diese nutzen.
Welche Auswirkungen hat der Übergang von einem Fachkräftemangel zu einem Arbeitskräftemangel?
Wir haben beobachtet, dass sich beispielsweise in diesem Jahr bei den Berufen, die einen Mangel aufweisen, die Indexwerte mehr oder weniger stabil gehalten haben. Im unteren Teil des Rankings gibt es jedoch starke positive Anstiege und Entwicklungen. Das bedeutet, dass auch bei geringer qualifizierten Arbeitnehmenden die Rekrutierung im Vergleich zum Vorjahr schwieriger wird. In der Vergangenheit waren punktuell einzelne Berufsgruppen von einem Fachkräftemangel betroffen, die eine sehr hohe Ausbildung erfordert haben. Das wandelt sich nun immer mehr in einen generellen Arbeitskräftemangel, der sich über viele Berufsgruppen unterschiedlicher Bildungsniveaus erstreckt.
Welche Lösungsansätze gibt es gegen den Arbeitskräftemangel?
Ich sehe drei Möglichkeiten. Erstens kann die Produktivität der Wirtschaft gesteigert werden, indem Forschung betrieben, in Automatisierungslösungen investiert wird oder Prozesse optimiert werden. Digitale Lösungen, also Roboter oder künstliche Intelligenz, könnten die fehlenden Arbeitskräfte ergänzen. Zweitens kann das firmeninterne Potenzial durch Aus- und Weiterbildungsmassnahmen besser ausgeschöpft werden, um Personal in die Berufsgruppen zu bringen, die von einem Mangel betroffen sind. Drittens kann vermehrt im Ausland rekrutiert werden. Momentan liegt für Schweizer Unternehmen der Hauptrekrutierungsmarkt für Fachkräfte aus dem Ausland hauptsächlich im EU/EFTA-Gebiet. Doch auch der EU/EFTA-Raum ist vom demografischen Wandel betroffen, also wird der Wettbewerb auf dem Hauptrekrutierungsmarkt heftiger. Trotzdem ist es für Schweizer Unternehmen immer noch nicht attraktiv genug, in Drittländern zu rekrutieren, weil administrative Hürden, wie die Drittstaatenkontingente, im Weg stehen. Da muss irgendwann etwas passieren, wenn der EU/EFTA-Markt austrocknet. Ein Markt, der sich anbietet, wäre Asien. In vielen Ländern Asiens, ausser China, wird die Bevölkerung eher jünger. Das ist in Afrika auch so, doch das Bildungsniveau ist dort generell geringer.
Besteht die Gefahr, dass Unternehmen abwandern?
Ja, insbesondere wenn politische Beschränkungen die Rekrutierung von Fachkräften aus dem Ausland erschweren. Investitionen in Automatisierung, interne Weiterbildung und gezielte Rekrutierung aus dem Ausland sind Schlüsselstrategien, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken.