Normalerweise gehen wir davon aus, dass die uns umgebenden Objekte unabhängig von uns oder anderen Objekten existieren. Wir können ein Glas als wohldefiniertes Objekt betrachten und seine chemischen oder physikalischen Eigenschaften im Labor untersuchen. Kennen wir zudem alle Umwelteinflüsse, die auf das Glas einwirken, können wir sein Verhalten für jeden beliebigen Zeitpunkt vorhersagen. Der Wissenschaft steht eine Wirklichkeit gegenüber, die aus klar abgegrenzten Objekten besteht und mit wissenschaftlichen Instrumenten vermessen und letztlich kontrolliert werden kann. Von der Dampfmaschine bis zur Glühbirne beruhen weite Teile des wissenschaftlichen Fortschritts auf dieser Vorstellung. Die klassische Physik mit den Gesetzen der Newton’schen Mechanik, der Elektround der Thermodynamik hat sie in Überprüfbare Naturgesetze gegossen.
Doch zu Beginn des 20. Jahrhunderts geriet dieses deterministische Weltbild zunehmend ins Wanken. Physiker wie Max Planck, Albert Einstein oder Nils Bohr zeigten, dass die klassische Physik bei der Beschreibung von Atomen oder Elementarteilchen versagt. In der Welt des mikroskopisch Kleinen, so schien es, gelten fundamental andere Gesetze.
Das Ende des Determinismus
«Die Quantenphysik bricht mit der Vorstellung einer in Subsysteme zerfallenden, deterministischen Wirklichkeit», erklärt ETH-Professor Hans Christian Öttinger. Er forscht am Departement für Materialwissenschaft zur Quantenfeldtheorie und befasst sich mit den philosophischen und erkenntnistheoretischen Implikationen der Quantentheorie. «In der Welt der subatomaren Teilchen können Dinge nicht mehr isoliert betrachtet werden, da alles miteinander korreliert sein kann», so der Physiker.
Misst oder beobachtet man ein System von Elektronen, Photonen oder anderen kleinsten Teilchen, tritt man unweigerlich mit ihm in Wechselwirkung und wird zu einem Teil eines grösseren Gesamtsystems. In diesem Sinn untersuchen wir keine unabhängige Wirklichkeit, sondern auch jene Veränderungen, die durch Messungen oder andere Interventionen unweigerlich ausgelöst werden. Doch damit nicht genug. Ist vermeintlich zufälliges Verhalten in der klassischen Physik ein Produkt mangelnder Informationen oder fehlerhafter Messungen, wird es in der Quantentheorie zum Prinzip erklärt. «Unser quantenphysikalisches Bild der Welt des Kleinsten zeigt klar, dass es echten Zufall in der Welt gibt», sagt Öttinger.
Der Doppelspaltversuch
Der sogenannte Doppelspaltversuch illustriert dies eindrücklich. Schiesst man Photonen aus einer Lichtquelle auf einen Detektorschirm, landen diese zufällig über einen weiten Bereich verteilt an unterschiedlichen Punkten, obwohl sie unter gleichen physikalischen Bedingungen abgefeuert wurden. Keinerlei Muster sind erkennbar. Es herrscht Zufall. Schiesst man dagegen mehrere Kugeln unter exakt gleichen Umweltbedingungen aus einer Pistole ab, schlagen diese zuverlässig immer am selben Ort ein. Schiebt man nun eine Trennwand mit zwei parallel angeordneten, gleich grossen Spalten zwischen die Lichtquelle und den Detektorschirm, bildet sich ein streifenförmiges Muster auf dem Schirm. Dieses Interferenzmuster kann mathematisch mit einer Wellenfunktion beschrieben werden, die es Physikern erlaubt, die Wahrscheinlichkeit, mit der Teilchen an gewissen Orten auftreffen, zu bestimmen. In der Welt der Quanten ersetzen probabilistische Aussagen den Determinismus der klassischen Physik.
Doch das Experiment hält eine weitere Überraschung bereit: Bringt man an jedem der beiden Spalte zusätzlich einen Detektor an, der misst, durch welchen Spalt sich die Photonen jeweils bewegen, ändert sich das Muster auf dem Schirm erneut. Für ETH-Professor Öttinger ist dies nicht weiter unerwartet: «Indem wir Trennwand und Detektoren in das Experiment einfügen, verändern wir die Welt, die wir beobachten wollten. Sie interagieren mit den Photonen und beeinflussen ihr Verhalten.» Diese Einsicht gilt auch für andere Elementarteilchen. Weder ganze Atome noch einzelne Elektronen lassen sich messen, ohne sie dabei in einem grösseren Gesamtsystem zu sehen. Doch warum sind dann grosse Objekte wie ein Glas isoliert beobachtbar, wenn alles miteinander korreliert ist? Für theoretische Physiker wie Öttinger sind hier Dekohärenz-Effekte am Werk: «Die wechselseitigen Korrelationen klingen bei grösseren Objekten schnell ab. Dadurch können wir ein Glas oder einen Stein einzeln untersuchen, ohne deren Interaktionen mit der Umwelt berücksichtigen zu müssen.»
Komplementarität und Widersprüche
So plausibel Öttingers Ausführungen zum holistischen Charakter von Quantensystemen und zur Dekohärenz erscheinen mögen, stehen sie doch im Widerspruch zur dominanten, anfangs von Nils Bohr geprägten Lesart der Quantentheorie, der Kopenhagener Interpretation. Nach dieser Interpretation beschreibt die Quantenmechanik nicht die Realität, sondern einen Wissenszustand über die Realität. Bohr nahm an, dass jedes quantenphysikalische Objekt stets sowohl Wellenals auch Teilcheneigenschaften aufweist. Im Fachjargon ist vom Komplementaritätsprinzip oder vom Welle-Teilchen-Dualismus die Rede. Dementsprechend wird das streifenförmige Interferenzmuster aus dem Doppelspaltversuch als Indiz dafür gesehen, dass sich Photonen tatsächlich wie Wellen durch die beiden Spalte bewegen. Misst man nun diese Bewegung mit einem Detektor, kommt es zu einem Kollaps der Wellenfunktion. Die Photonen werden dann als diskrete Teilchen auf dem Schirm sichtbar.
Für Öttinger und andere Physiker wirft diese Lesart mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Sollen wir davon ausgehen, dass sich Teilchen wellenartig bewegen? Steht diese Annahme nicht im Widerspruch zur Behauptung des Kollapses? Was genau verstehen wir in der Quantenphysik Überhaupt unter einem Teilchen? Und können sich diese wirklich auf Bahnen bewegen?
Quantenfeldtheorie
Öttinger zufolge zwingen uns solche Fragen dazu, klassische Begriffe wie Teilchen, Welle oder Bewegung aufzugeben. Er selbst sieht in der Quantenfeldtheorie den vielversprechendsten Ansatz zur grundlegenden Erklärung von Quantenphänomenen, obwohl deren robuste und anschauliche Formulierung grosse Probleme aufwirft. In der Quantenfeldtheorie können jederzeit neue Teilchen entstehen und verschwinden. Anstatt von Teilchen spricht der Physiker lieber von Wolken oder Schwärmen von Teilchen, die erst ab einer gewissen Auflösung als einzelne Teilchen erkennbar sind. Unterhalb dieser Grenze sind sie verschmiert, ähnlich wie bei einem Bild, bei dem die einzelnen Pixel erst beim Hineinzoomen sichtbar werden, wobei die genaue Pixelauflösung für das Gesamtbild gar keine Rolle spielt.
Ob dieses Bild der Quantenwelt letztlich Überzeugender ist, wird wohl noch länger Anlass zu Diskussionen geben. Die Anwendungen der Quantentheorie sind dennoch längst Bestandteile unseres Alltags. Nur ganz zu verstehen scheinen wir den zu Grunde liegenden mathematischen Formalismus bis heute nicht. Dazu müssten wir bereit sein, neue Erkenntnisse in unsere Erfahrungswelt zu integrieren.
Zur Person
Hans Christian Öttinger ist Professor für Polymerphysik am Departement für Materialwissenschaft der ETH Zürich.