Um menschliche Hinterlassenschaften zu entsorgen, durchzieht ein Kanalnetz von 130’000 Kilometern den Schweizer Untergrund. Zudem sind riesige Mengen an Wasser, meist Trinkwasser nötig, um Urin und Fäkalien zu weit entfernten Abwassereinigungsanlagen zu spülen, etwa 1,4 Milliarden Kubikmeter pro Jahr. Nur wenige reiche Länder können sich das tatsächlich leisten. Auch die Schweiz ist gefordert, denn die Infrastruktur ist Überaltert und Bevölkerungswachstum, Klimawandel und Mikroverunreinigungen erhöhen den Druck auf Kanalsystem und Abwasserreinigungsanlagen, allen voran in den Städten. Da zudem weltweit Ressourcen immer knapper werden, steigt das Interesse, wertvolle Rohstoffe aus Abwasser zurückzugewinnen.
Beitrag zum Ziel 6 für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen
Das inter- und transdisziplinäre Forschungsprogramm Wings des Wasserforschungsinstituts Eawag hat sich deswegen unter anderem zum Ziel gesetzt, städtische Abwassersysteme nachhaltig zu entwickeln und damit einen Beitrag zum Nachhaltigkeitsziel 6 der vereinten Nationen zu leisten: sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen für alle. Sabine Hoffmann, die das Programm leitet, erklärt: «Das Programm erforscht alternative, dezentrale Abwassersysteme, die keine weiträumigen Kanalnetze benötigen, weniger Wasser verbrauchen, das Abwasser direkt vor Ort reinigen und wertvolle Rohstoffe wie Wasser, Nährstoffe und Energie aus dem Abwasser zurückgewinnen.»
In der Schweiz werden derzeit viele alternative Technologien entwickelt. In Genf trennen und behandeln Wohnbaugenossenschaften Urin und Haushaltsabwässer vor Ort. Das Schweizer Unternehmen Laufen bringt seit 2019 eine Toilette zur separaten Trennung und Rückgewinnung von Nährstoffen aus Urin auf den Markt. Eawag und Empa entwickeln und testen die dezentrale Abwasserreinigung im NEST-Gebäude , und die Städte und Freiburg sind führend bei der Entwicklung von Quartieren mit dezentraler Abwasserreinigung. Der Zürcher Komposttoilettenhersteller Kompotoi will zusammen mit Partnern aus Deutschland und Frankreich die Abwasserwende einläuten und Ressourcenkreisläufe schliessen, indem er die Nährstoffe aus den Fäkalien und dem Urin der öffentlichen Komposttoiletten als Dünger in der Landwirtschaft verwendet.
Low- und High-Tech miteinander vernetzen
Wie eine Studie der Forscher Jonas Heiberg und Bernhard Truffer gezeigt hat, sind die Ansätze sehr unterschiedlich. Während einige Akteure eher Low-Tech-Lösungen bevorzugen, setzen andere auf High-Tech. Das kann dazu führen, dass sich unabhängige Innovationsszenen entwickeln, die sich möglicherweise sogar gegenseitig blockieren. «Nur wenn Forschung, Politik, Behörden, Stadtplanung, Ingenieurund Architekturbüros zusammenarbeiten, lassen sich nachhaltige und praktikable Lösungen für unterschiedliche Städte und Bedürfnisse entwickeln und auch effizient umsetzen», sagt Sabine Hoffmann.
Um solche Lösungen zu entwickeln und in der Praxis konkret umzusetzen, arbeitet Wings in einem interdisziplinären Team von Ingenieurinnen und Ingenieuren sowie Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlern der Eawag-Abteilungen Verfahrenstechnik, Siedlungswasserwirtschaft, Umweltsozialwissenschaften sowie Siedlungshygiene und Wasser für Entwicklung. Das Programm baut auf bestehenden interund transdisziplinären Projekten auf, die zum Teil eng mit Akteuren aus Verwaltung, Politik, Praxis und Industrie zusammenarbeiten. Es bündelt diese Forschungsprojekte unter einem gemeinsamen Dach und nutzt Synergien, um Veränderungsprozesse in Richtung einer nachhaltigen Siedlungswasserwirtschaft in Industrie-, Schwellenund Entwicklungsländern zu unterstützen. «Unser Ziel ist es, aus den bisherigen Erfahrungen in der Entwicklung und Umsetzung konkreter Lösungen zu lernen, um solche Veränderungsprozesse gezielt anstossen zu können», sagt Sabine Hoffmann.
Paradigmenwechsel vom linearen zum zirkulären Denken und Handeln
Wings zeigt zudem auf, in welchen Bereichen Anpassungen nötig sind, um Abwassersysteme zukunftsfähig zu machen. So braucht es zum Beispiel nicht nur Veränderungen von Infrastrukturen und Märkten, wobei technische und soziale Innovationen zu koppeln sind. Auch müssen sozio-technische Lösungen erstmal im kleinen Massstab gezielt getestet werden, zum Beispiel in Reallaboren, Pilotprojekten oder Experimentierräumen. Hierfür müssen geeignete Rahmenbedingungen geschaffen werden, die auch ein Scheitern erlauben. Natürlich müssen alle relevanten Akteure in solche Veränderungsprozesse systematisch und breit eingebunden werden. Aber letztendlich braucht es einen Paradigmenwechsel «vom linearen zum zirkulären Denken und Handeln», der in Schulen, Universitäten und der beruflichen Aus-, Fortund Weiterbildung gezielt vermittelt werden muss.
Literatur
Hoffmann, S.; Feldmann, U.; Bach, P. M.; Binz, C.; Farrelly, M.; Frantzeskaki, N.; Hiessl, H.; Inauen, J.; Larsen, T. A.; Lienert, J.; Londong, J.; Lüthi, C.; Maurer, M.; Mitchell, C.; Morgenroth, E.; Nelson, K. L.; Scholten, L.; Truffer, B.; Udert, K. M. (2020) A research agenda for the future of urban water management: exploring the potential of non-grid, small-grid, and hybrid solutions, Environmental Science and Technology, 54(9), 5312-5322 , doi: 10.1021/acs.est.9b05222 , Institutional Repository
Deutsch, L.; Belcher, B.; Claus, R.; Hoffmann, S. (2021) Leading interand transdisciplinary research: lessons from applying theories of change to a strategic research program, Environmental Science and Policy, 120, 29-41 , doi: 10.1016/j.envsci.2021.02.009 , Institutional Repository
Heiberg, J.; Truffer, B. (2022) Overcoming the harmony fallacy: how values shape the course of innovation systems, , 42, 411’428 , doi: 10.1016/j.eist.2022.01.012 , Institutional Repository