Tausende Patientinnen und Patienten in knapp 40 Ländern – das sind die Eckdaten der sogenannten Solidarity-Studie der WHO. Sie soll zeigen, ob bereits vorhandene Medikamente den Verlauf einer COVID-19-Erkrankung lindern können.
Vier vielversprechende Wirkstoffe bzw. Wirkstoffkombinationen hatte die WHO ausgewählt, um sie in mehreren Ländern zu testen: das Malariamittel Hydroxychloroquin, den HIV-Wirkstoff Ritonavir / Lopinavir, das gegen Ebola entwickelte, virushemmende Remdesivir – und Beta Interferon (Interferon beta-1a / Interferon-beta), ein Botenstoff des Immunsystems.
Das bekannteste Medikament aus dieser Gruppe ist Remdesivir. Der Wirkstoff ist seit Anfang Juli auch in bestimmten Ländern auch in Europa zur Behandlung von COVID-19-Erkrankten zugelassen. Die EU-Kommission hat am 29. Juli 2020 beim US-Pharmakonzern Gilead eine Lieferung des Medikaments Remdesivir zur Behandlung von 30.000 Patienten mit schweren Symptomen in der Europäischen Union bestellt. Ab Anfang August soll die Lieferung den Mitgliedsstaaten und Großbritannien zur Verfügung stehen.
Der renommierte Lungenforscher Professor Tobias Welte ist Direktor der Klinik für Pneumologie an der Medizinischen Hochschule Hannover und einer der Koordinatoren der Solidarity-Studie. Im Interview mit dem Informationssender Deutschlandfunk hat er sich zu verschiedenen Medikamenten geäussert. Wir fassen seine Aussagen zusammen, die einen sehr guten Überblick zum aktuellen Forschungsstand der verschiedenen Medikamente gibt.
Remdesivir ist nicht der Durchbruch in der COVID-19-Therapie
Zu Remdisivir
Welte: Remdesivir verkürzt die Krankheitsdauer, es hat in den bisher publizierten Studien einen gewissen, aber eher geringen Effekt auf die Sterblichkeit gehabt. Remdesivir wirkt eher, wenn man das früh im Erkrankungsverlauf gibt, also bevor die Patienten auf der Intensivstation landen, bevor sie beatmet sind. In den späteren Fällen zeigt sich kaum noch eine Wirksamkeit. Es ist besser Remdesivir zu haben als überhaupt nichts, aber insgesamt ist es nicht der Durchbruch in der COVID-19-Therapie, und wir warten auf effektivere Substanzen.
Die Untersuchungen laufen aber weiter, weil die Datenlage unvollständig ist und weil wir noch nicht ausreichend herausgearbeitet haben, welche Patienten den besten Benefit haben, deshalb brauchen wir noch zusätzliche Daten.
Über Beta Interferon der britische Biotech-Firma Synergen
Welte: Das Problem bei Solidarity, der großen WHO-Studie, ist, dass Beta Interferon dort nie als Einzeltherapie gegeben worden ist, sondern immer in Kombination mit anderen Medikamenten. Und damit kann man nur sehr schwer etwas über die Wirksamkeit der Monosubstanz sagen. Auch die von der Firma im Internet publizierten Daten sind sehr kursorisch, da müsste man sehr viel mehr in die Tiefe hineinsehen, vor allem in die Frage, waren die Patientengruppen vergleichbar und wie viel Begleitmedikation haben die Patienten gehabt, um eine endgültige Einschätzung geben zu können. Aber immerhin, es ist ein Ansatz, der zumindest vorläufig erfolgsversprechend erscheint.
Über Hydroxychloroquin und Lopinavir/Ritonavir
Welte: Ich wäre für beide Wirkstoffe sehr, sehr skeptisch. Alle Daten, die wir bisher vorliegen haben, auch die aus dem Solidarity-Trial, zeigen, dass die Nebenwirkungsrate höher ist als die Erfolgsrate und somit ein eher negativer als positiver Einfluss von Hydroxychloroquin oder HIV-Medikamenten zu betrachten ist. Beim Hydroxychloroquin sind das vor allen Dingen die Nebenwirkungen am Herz, bei den HIV-Medikamenten die Nebenwirkungen an der Leber.
Über die Recover Studie der Universität Oxford/Dexamethason
Welte: Tatsächlich ist das so, dass alle großen COVID-Zentren Dexamethason einsetzen aus einer Reihe von Gründen. Es hat in dieser Studie, auch wenn die Ergebnisse präliminär sind, einen Effekt gezeigt. Auf der anderen Seite ist das Nebenwirkungsspektrum überschaubar, sodass das heute der Standard in der Therapie ist. Allerdings sind die publizierten Ergebnisse nicht so überzeugend, als dass hier nicht noch weitere Studien notwendig wären. Beim Dexamethason muss man aber betonen, es hat nur eine Wirksamkeit bei den Schwerkranken gezeigt, also nur dann, wenn man einen wirklichen Sauerstoffmangel gehabt hat. In der Gruppe von nicht von Sauerstoffmangel Beeinträchtigten, hat es eher negative als positive Effekte gegeben.
Zum Rheumamedikament Tocilizumab von Roche
Welte: Kürzlich sind die Daten der ersten großen randomisiert kontrollierten Studie, Covacta ist der Kurzname, in der Presse publiziert worden, die zeigen keinerlei Effektivität für keinen der gewählten Outcome-Parameter, sodass ich im Moment nicht glaube, dass dieses Medikament in die Therapie eingefügt werden wird. Vielleicht wird es Subgruppen geben, dazu braucht man eine viel detailliertere Auswertung der Daten, die profitieren können, vor allen Dingen die, die ein sehr ausgeprägtes Entzündungssyndrom zeigen, aber zum jetzigen Zeitpunkt sind die Ergebnisse eher ernüchternd.
Über den Ansatz mit antikörperreichem Blutplasma von COVID-19-Erkrankten, die die Krankheit überstanden haben Erkrankte zu therapieren.
Welte: Das gab es schon seit allen Zeiten von Pandemien, schon bei der Spanischen Grippe hat man versucht, Rekonvaleszentenplasma einzusetzen, bei anderen Ereignissen auch, ohne dass es da je gute Ergebnisse gegeben hat. Es gibt jetzt eine Reihe von gut geplanten Studien mit zwei verschiedenen Ansätzen. Ansatz eins: Bei den Patienten, die schwer krank sind und die sich nicht von selbst erholen. Hier sehe ich persönlich die Wirksamkeit als sehr skeptisch an, weil in der späten Phase der Erkrankung das Virus selber nicht mehr die wesentliche Rolle spielt, sondern eher die Antwort des Patienten auf das Virus. Und dann, diese Studien sind noch gar nicht gestartet, Studien bei eher leicht Kranken, wo man den Fortschritt der Erkrankung verhindern will. Das könnte tatsächlich ein Ansatz sein, aber hierzu fehlen momentan alle Daten.
Über den Stand der Forschung insgesamt
Welte: Momentan sind etwa 100 verschiedene Substanzen in frühen Studien oder kurz vor dem Start von frühen Studien. Der wesentliche Unterschied zur Anfangsphase von COVID-19 ist, dass in der Anfangsphase bereits bekannte, für andere Indikationen entwickelte Substanzen ausprobiert wurden, während ein Großteil der jetzt neu studierten Substanzen spezifisch gegen das Coronavirus SARS-CoV-2 gerichtet ist. Insgesamt eigentlich ein deutlich vernünftigerer Ansatz, aber da sind wir noch früh in der Entwicklung und da kann man nur spekulieren, was helfen wird. Trotz allem, ich persönlich glaube, dass wir eher wirksame Medikamente haben, als dass wir einen Impfstoff haben werden. Insofern sind diese Medikamentenprüfungen ausgesprochen wichtig.